Selen und seine orthomolekulare bzw. physiologische Bedeutung
Veröffentlicht von Rainer Langlitz in Gesundheit · Sonntag, 11. Dezember 2022 · 7:30
Selen gehört zu den 8 wichtigsten Spurenelementen.
"Bei einem Selenmangel, der nicht durch Ernährung ausgeglichen werden kann, etwa bei Verdauungs- und Verwertungsstörungen, oder bei einer Fehl- und Mangelernährung wird Selen als Natriumselenit verabreicht.
In Anti-Schuppen-Haarshampoos wird Selendisulfid in Konzentrationen bis 1 % und medizinisch in Konzentrationen von beispielsweise 2,5 % zur Vorbeugung und Therapie von Pityriasis versicolor, einer durch einen Hefepilz verursachten Hauterkrankung, verwendet. Selenhaltige Anti-Schuppen-Shampoos eignen sich ebenfalls zur Behandlung des Juckreizes bei Pferden.[56]
Biologische Bedeutung
Selen ist ein essenzielles Spurenelement für Menschen und Tiere. Es ist in Selenocystein enthalten, einer Aminosäure im aktiven Zentrum des Enzyms Glutathionperoxidase und vieler weiterer Selenoproteine. Selenocystein ist auch als 21. Aminosäure bekannt und wird während der Proteinbiosynthese über eine eigene transfer-RNA eingebaut. Das selenenthaltende Enzym Glutathionperoxidase (GSHPx), welches in allen tierischen Zellen vorkommt, ist entscheidend am Abbau von membranschädigenden Oxidantien sowie Radikalfolgeprodukten beteiligt. Es dient dem Schutz der Zellmembranen vor oxidativer Zerstörung durch Peroxide, die während des normalen Fettstoffwechsels gebildet werden.[57] Dazu gehören die zelluläre oder klassische Glutathionperoxidase 1 (GSHPx-1), die im Zytosol und der Mitochondrienmatrix wirkt sowie die gastrointestinale GSHPx-2, die in der Darmschleimhaut wirkt. Die extrazelluläre Plasmaglutathionperoxidase (GSHPx-3) und die GSHPx-4 wirken in den Phospholipiden von Lipidmembranen oder im Strukturprotein im Schwanzstück von Spermien. Durch eine reduzierte Glutathionperoxidaseaktivität lässt sich eine Reihe von Selenmangelsyndromen erklären. Es sind etwa 25 Selenoproteine im menschlichen Proteom bekannt.[58] Selen spielt eine wichtige Rolle bei der Produktion der Schilddrüsenhormone, genauer bei der „Aktivierung“ von Thyroxin (T4) zu Triiodthyronin (T3).[59][60][61] Es ist Bestandteil des Enzyms Thyroxin-5′-Deiodinase, die für die Entfernung eines Iodatoms aus T4 verantwortlich ist. Durch diese Deiodierung entsteht T3. Ein Selenmangel führt zu einem Mangel an Thyroxin-5′-Deiodase, wodurch nur noch ein Teil des verfügbaren T4 deiodiert werden kann. Da T3 im Stoffwechsel wesentlich wirksamer ist, resultiert aus einem T3-Mangel eine Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose).
Thioredoxinreduktase (TrxR), die das für das Zellwachstum wichtige Thioredoxin reduziert, aber auch zahlreiche weitere nieder- und hochmolekulare Substrate. Iodthyronin-5′-Deiodinasen (Schilddrüsenhormondeiodinasen; ID-I, ID-II, ID-III) katalysieren die Synthese von Schilddrüsenhormonen.
Selenoproteine, die im Zentrum die modifizierte Aminosäure Selenocystein tragen, darunter Selenprotein H, I, K, M, N, O und P dienen als Transportprotein für Selen zwischen Körperzellen; R, die Methioninsulfoxid-Reduktase sowie S, T, V und W kommen in der Muskulatur vor. Selenophosphatsynthetase 2, katalysiert die Synthese von Monoselenophosphat, einem Vorläufer von Selenocystein.
Selen wirkt in höheren Konzentrationen stark toxisch, wobei die Spanne zwischen Konzentrationen, die Mangelerscheinungen hervorrufen, und toxischen Konzentrationen sehr gering ist. Zudem ist die Toxizität von Selen abhängig von der chemischen Bindungsform.
Selenanreicherung in der Nahrungskette
Algen und Mikroorganismen in aquatischer Umgebung können Selen aus dem Wasser aufnehmen und um das Millionenfache der wässrigen Konzentration anreichern.[62] Pflanzen bauen Selen je nach Bodengehalt anstelle des Schwefels unspezifisch in Aminosäuren ein, besonders in Selenomethionin und in geringem Umfang Selenocystein beziehungsweise in dessen Derivate wie Methylselenocystein. Nur die sogenannten „Selensammlerpflanzen“ (Selenakkumulator-Pflanzen, zum Beispiel Paradiesnuss), die in selenreichen Gebieten mit aridem Klima vorkommen, speichern Selen darüber hinaus als organisch gebundenes, wasserlösliches Selen oder Selensalze. Der Umfang der Aufnahme hängt ab von der Bioverfügbarkeit des Selens. Hohe organische Anteile adsorbieren Selen und reduzieren es, so dass es immobilisiert ist und durch Pflanzen nicht aufgenommen werden kann. Als selenarme Böden gelten Böden mit Konzentrationen unter 0,1 Parts per million (ppm), bei Selenkonzentrationen über 0,5 ppm gelten Böden als selenreich.[62]
Selenaufnahme
Basierend auf der Sättigung des Selenoproteins P mit Selen wurde die empfohlene Tagesdosis in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf 70 Mikrogramm pro Tag für einen Mann, 60 Mikrogramm pro Tag für eine Frau und 75 Mikrogramm pro Tag für stillende Frauen festgelegt.[63][64] Der Bedarf bei Kindern und Jugendlichen wird altersabhängig geringer geschätzt.[63] Der Wissenschaftliche Ausschuss für Lebensmittel der Europäischen Kommission legte 1993 einen Referenzwert von 55 Mikrogramm Selen pro Tag für Erwachsene fest.[65] Einer Bewertung des Ausschusses zufolge soll die tägliche Gesamtaufnahme 300 Mikrogramm pro Tag nicht übersteigen.[66] Das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) empfiehlt für Nahrungsergänzungsmittel die Tagesdosis auf 45 Mikrogramm zu beschränken.[67] Das US-amerikanische National Institutes of Health empfiehlt als normale Dosis für Erwachsene 55 Mikrogramm Selen pro Tag, und als obere Toleranzgrenze, bei der noch keine negativen Auswirkungen auf die Gesundheit zu erwarten sind, 400 Mikrogramm pro Tag.[68] In der Milchviehfütterung wird Selen zugesetzt, da der natürliche Selengehalt der Futtermittel oft nicht zur Versorgung der Nutztiere ausreicht.
Medizinische Aspekte
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) befand ausreichend wissenschaftlich belegt, dass Selen beitrage zu einer normalen Spermatogenese, zur Erhaltung von Haaren und Nägeln, zur normalen Funktion des Immunsystems und zum Schutz der Zellen vor oxidativem Stress sowie zur normalen Schilddrüsenfunktion.[69][70]
Eine Veröffentlichung der Zeitschrift Pharmainformation vom Juni 2005 behandelte die zusätzliche Selengabe mit Blick auf postulierte Nützlichkeit bei verschiedenen Krankheiten: Keine der verfügbaren Studien erbrachte Hinweise für einen Nutzen von Selen in irgendeinem Zusammenhang. Zwar scheint eine positive Beeinflussung verschiedener Krebsarten möglich, andererseits die Begünstigung anderer Karzinome nicht unwahrscheinlich.[71] Ein solcher Zusammenhang wird für Herz-Kreislauf-Erkrankungen diskutiert.[72][73] Die experimentelle Hypertonie an der Ratte kann durch prophylaktische Selengabe wesentlich reduziert werden.[74] Interessant ist in diesem Zusammenhang die protektive Selenwirkung bei der Kryokonservierung von Herzmuskelfragmenten.[75]
Die zur Untersuchung der protektiven Wirkung von Selen und Vitamin E gegenüber Krebs initiierte „SELECT“-Studie („Selenium and Vitamin E Cancer Prevention Trial“) wurde 2008 vor dem geplanten Ende abgebrochen, da ein Nutzen zu dem Zeitpunkt bereits ausgeschlossen werden konnte.[76] Verschiedene randomisierte kontrollierte Studien konnten mit hoher Evidenz keine positive Wirkung der Gabe von Selenpräparaten auf die Verringerung des Krebsrisikos zeigen. Wiederkehrende Studien über mehrere Jahre zeigten zum Teil einen umgekehrten, zum Teil keinen und zum Teil einen direkten Zusammenhang zwischen der Selenexposition und dem Krebsrisiko, jedoch gab es in keiner Studie einen Hinweis auf eine Dosis-Wirkungs-Beziehung. Offen ist, ob Selen das Krebsrisiko bei Personen mit einem bestimmten genetischen Hintergrund oder Ernährungszustand verändern kann, sowie die mögliche Wirkungen verschiedener Selenformen.[77] Untersuchungen über einen Effekt von Selen auf die Linderung von Nebenwirkungen von Chemo- und Strahlentherapie boten ebenfalls keine Grundlage für eine Empfehlung für oder gegen eine Selensupplementierung.[78] Die Selenkonzentration wurde bei diesen Studien entweder im Blutplasma, im Blutserum oder in den Zehennägeln gemessen. Die Bestimmung des Selengehalts in Zehennägeln unterliegt geringeren Schwankungen als die im Serum oder Plasma, daher sind diese Werte meist aussagekräftiger.[79]
Ähnlich verliefen Studien über den Effekt von selenhaltigen Nahrungsergänzungsmitteln auf die Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei gesunden Erwachsenen, die bereits über die normale Ernährung ausreichend mit Selen versorgt waren. Dabei konnte ebenfalls weder ein Vorteil noch ein Nachteil beobachtet, Herz-Kreislauferkrankungen konnten durch eine Selengabe nicht verhindert werden.[80] Es gab vermehrte Diabetes-2-Fälle in der Selen-Substitutionsgruppe, der Unterschied war jedoch nicht signifikant. Jedoch kam es vermehrt zu Alopezie und Dermatitis. Eine dauerhafte zusätzliche Zuführung von Selen (Supplementierung) ist mit schädlichen Wirkungen in Verbindung gebracht worden. Nachdem 2007 eine Studie zur Selen-Supplementierung unerwartet ein übermäßiges Risiko für einen Typ-2-Diabetes ergeben hatte, gab es eine Reihe weiterer Studien dazu.[81] Eine systematische Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2018 kam zu dem Schluss, dass Selen das Risiko für Typ-2-Diabetes über eine breite Expositionsspanne hinweg erhöhen kann, insgesamt sei das Risiko jedoch gering.[82]
Die vorliegenden Studien sind auch unzureichend, um ein mögliches Krebsrisiko am Arbeitsplatz zu untersuchen. Insgesamt sind die bisherigen Ergebnisse zu einem Ursachenzusammenhang von Selen und Krebs bzw. Diabetes nicht ausreichend, um eine Exposition-Risiko-Beziehung (ERB) oder einen Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) für Selen abzuleiten.[83]
Selenmangelkrankheiten
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